Kontext, Wochenzeitung, Dietrich Heißenbüttel, Stuttgart 2013
Wenn Künstler sich mit dem Arbeitsleben beschäftigen, treffen Welten aufeinander. Das war zwei Wochen lang in der Stuttgarter Agentur für Arbeit zu sehen. Das Projekt geht weiter: Kunstprofessor Felix Ensslin plant bereits das nächste Seminar an der Kunstakademie.
„Ich bin glücklich, wenn ich wieder einmal eine Arbeitsstelle habe, bei der ich eine sinnstiftende Tätigkeit ausüben kann.“ So steht es in einem der elf „Arbeitsbücher“ in grauem Leineneinband mit gelb eingeprägter Hand. Dieses trug den Titel „Glücklich unglücklich“. So glücklich, wie es sich der sinnsuchende Autor wünscht, mögen die wenigen Künstler sein, die von ihrer Kunst leben können. Wer die Arbeitsagentur aufsucht, ist es nicht. Die Kunststudentin Franziska Geißler hat die Bücher an Bekannte verteilt, die sie mit Gedanken, Zeitungsausschnitten und Bildern gefüllt haben. Zwei Wochen lang waren die etwas anderen Poesiealben an einem Pfeiler im großen Empfangsraum der Agentur für Arbeit in der Stuttgarter Nordbahnhofstraße ausgestellt, als eine von 30 künstlerischen Arbeiten. Felix Ensslin hat das Projekt organisiert. Der Professor für Ästhetik und Kunstvermittlung an der Stuttgarter Akademie der bildenden Künste plant bereits eine Fortsetzung: in Freiburg, in Kooperation mit dem dortigen Kunstmuseum und dem Stadttheater.
Arbeitslose, geschminkt als Zombies
Kunst in der Arbeitsagentur – hat es das nicht schon einmal gegeben? Es hat, ebenfalls in Stuttgart, im Jahr 2004. Damals hatte das Berliner Künstlerduo „bankleer“ im alten Arbeitsamt in der Neckarstraße eine Aktionswoche veranstaltet. Drei Arbeitsloseninitiativen waren eingeladen, denen später die Zuschüsse gestrichen wurden. Filme wurden gezeigt, unter anderem von Fabrikbesetzungen in Argentinien. Als Zombies geschminkt, waren Teilnehmer der Aktionswoche in Beratungsgespräche und Vorstandssitzungen eingedrungen. Für das Künstlerpaar sind Zombies ein treffendes Bild der Arbeitslosen, die, von Zuwendungen und Anweisungen der Jobcenter abhängig, kein selbstbestimmtes Leben führen, sondern als lebende Tote ein freudloses Dasein fristen.
Bereits ein Jahr zuvor hatten bankleer eine ähnliche Aktion in Berlin geplant, waren ins dortige Arbeitsamt jedoch nicht vorgelassen worden. Zur Stuttgarter Aktionswoche bemerkt Jean-Baptiste Joly, der Direktor der Solitude-Akademie, wo Karin Kasböck und Christoph Leitner damals Stipendiaten waren: „Zum Erstaunen beider Künstler und auch der Akademie Schloss Solitude nahm die Agentur das Projekt auf und stellte großzügig Räume und Infrastruktur zur Verfügung. Die Gründe, die die Bundesagentur dazu bewogen haben, dieses Projekt anzunehmen, sind nie wirklich formuliert worden.“
Ensslin kennt diese Aktionswoche. Und er schätzt bankleer, mit denen er bereits einmal zusammengearbeitet hat. Die von ihm kuratierte Ausstellung in der Arbeitsagentur jedoch geht jedoch nicht auf seine Initiative zurück: „Der Impuls kam von der Regionaldirektion.“ Die Regionaldirektion der Agentur für Arbeit in der Hölderlinstraße ist kein Ort für Publikumsverkehr.
Dort war ein zweiter Teil der Ausstellung zu sehen, der nur im Rahmen einer Führung besichtigt werden konnte. Im Eingang lag ein Kassenzettel von Lidl auf einem Podest, die Anfangsbuchstaben der Waren ergaben das Wort Mindestlohn. Ein Student hatte Farbe aus Tuben auf 15 kleine Leinwände gedrückt. Es gab Zeichnungen, Radierungen, Objekte, Fotos, Installationen und Videokunst. Manches hatte direkt, anderes eher weitläufig mit Arbeit zu tun.
Agentur-Mitarbeiter murrten über künstlerische Stolpersteine
Was bewog die Regionaldirektion, sich an die Stuttgarter Kunstakademie zu wenden mit dem Anliegen, eine Kunstausstellung in ihren Räumen zu veranstalten? Darüber kann nur spekuliert werden. Auffällig ist jedoch, dass die Arbeitsagentur heute wie damals einem erheblichen Veränderungsdruck unterworfen ist. Zum 1. Januar 2005 wurden die bis dato staatlichen Arbeitsämter in scheinselbstständige „Agenturen“ umgewandelt. Arbeitssuchende wurden zu „Kunden“ umdefiniert, auch wenn diese kein Geld haben, etwas zu kaufen, und auch gar nichts angeboten bekommen. Sukzessive wurden die Arbeitsagenturen in Randgebiete jenseits der Bahnlinien verlagert, nach dem Motto: aus den Augen, aus dem Sinn. „Wir glauben, dass es Science-Fiction ist, das Phänomen der Arbeitslosigkeit nur durch neue Begrifflichkeiten, schnellere Vermittlung, Förderung von Selbstständigkeit oder Ausweitung der Leiharbeit in den Griff zu bekommen“, schreiben dazu bankleer: „Eine Illusionsmaschine, mit der auf jeden Fall eines vermieden werden soll: ein von der Arbeit unabhängiges Einkommen als Grundeinkommen.“
Aktuell hat die Agentur erneut „extreme Reformprozesse durchgemacht“, wie sich Ensslin ausdrückt. Statt 24 gibt es in Baden-Württemberg nur noch 19 Agenturen. Bis 2015 sollen, bei derzeit 8000 Mitarbeitern, 1300 Stellen abgebaut werden. Landesweit ist die Agentur für Arbeit nur noch für ein knappes Viertel der Arbeitslosen zuständig, in Stuttgart immerhin für ein Drittel. Alle anderen, die aus Alters- oder anderen Gründen kaum noch Aussichten haben, eine Stelle zu finden, die „Hartzer“ oder „ALG-Zweier“, müssen sich ans Jobcenter wenden, das in Stuttgart von der Kommune betrieben wird und sich noch mehr am Rande befindet – hinter der Agentur: im gesellschaftlichen und räumlichen Abseits.
Ensslin bestand darauf, auch die Agentur in der Nordbahnhofstraße als öffentlichen Ort einzubeziehen. Es kam zu einer formellen Vereinbarung mit der Akademie; die Regionaldirektion übernahm den größeren Teil der Kosten. Auf eine hochschulweite Ausschreibung unter dem Titel „Künstler zwischen Arbeitsmarkt und Bolognaprozess“ erhielt Ensslin eine „überwältigende Resonanz“. Offenbar sah nicht nur er, sondern bemerkten auch die Studierenden einen engen Zusammenhang zwischen der Reglementierung der Arbeitswelt und des Studiums, zwischen verkürzten Studienzeiten mit Bachelor- und Masterabschlüssen und der anschließend drohenden Entlassung in die Arbeitslosigkeit. Nachdem Ensslin zusammen mit dem Künstler Ulf Aminde und dem Duo Discoteca Flaming Star, das an der Akademie intermediales Gestalten lehrt, die Arbeiten und Teilnehmer ausgewählt hatte, begann eine intensive Beschäftigung damit, was Arbeit heute bedeutet.
„Für mich war das nicht so ungewöhnlich“, gibt eine Teilnehmerin zu bedenken, die ihren Studienabschluss bereits hinter sich hat. „Diese Prozesse habe ich schon kennengelernt und mich intensiv mit dem Thema Arbeit und Gesellschaft auseinandergesetzt.“ Einige der Bücher, die Ensslin mit seinen Studierenden diskutierte, waren in der Regionaldirektion ausgestellt. „Der neue Geist des Kapitalismus“, heißt es im gleichnamigen Buch von Ève Chiapello und Luc Boltanski, „definiert sich durch Flexibilität, Mobilität, Kreativität und Eigenverantwortung, die die employability der Menschen bestimmen. Wer über diese Eigenschaften verfügt, kann die Möglichkeiten nutzen, die der projektbasierte Kapitalismus des 21. Jahrhunderts bietet.“ Junge Künstler scheinen solchen Anforderungen bestens zu entsprechen: eine Paradoxie, denn die wenigsten werden je von ihrer Kunst leben können.
Dem Hausmeister hat’s gefallen
Was passiert, wenn ihre Kreativität auf die öffentlichen Räume der Agentur und die geschlossenen der Verwaltung losgelassen wird, war an beiden Orten zu beobachten. Oliver Feigl etwa hat ein „out-of-work work-out“ gezeigt: In seinem Video machen sich vier junge Akteure mit Aerobics für den Arbeitsmarkt fit. Vier Schüler vor der Leinwand tanzten begeistert mit. Mitten im Raum hing eine große Glocke aus Epoxidharz von Elisabeth Becker. Wer sich hineinbeugte, bekam Sätze um die Ohren geworfen wie „Mach doch mal!“ oder „Duck dich!“. Ein Mann in blauer Strickmütze, Jeans und Jeansjacke, der sonst wohl eher nicht zu den Besuchern von Kunstausstellungen zählt, betrachtete lange und nachdenklich drei Ölgemälde, auf denen Männer mit Bauhelm oder vor einem landwirtschaftlichen Hintergrund zu sehen waren.
Einige Arbeiten in der Regionaldirektion hielten der Agentur direkt den Spiegel vor: Yasmin Senkal bezog für die Dauer der Ausstellung einen Raum, wo sie von 7.30 bis 16 Uhr Collagen anfertigte. Leonora Ruchay hat eine Weiterbildung gebucht, andere Teilnehmerinnen befragt und den Interviewtext einem Video unterlegt, das den Weg durch die endlosen, grauen Gänge der Agentur zeigt. Zwischen den künstlerischen Arbeiten war auch ein Blick auf den Alltag zu erhaschen: „Jour fixe Geschäftsführung plus findet heute in H 117 statt“, steht auf einem Flipchart. Im Konferenzraum Tischkärtchen, ein Herz, angehängt „lich willkommen“, Name und Agentur oder Jobcenter. An der Rückwand haben Henrik Hillenbrand und Leonie Hosoda die Biografie eines Arbeitslosen zusammengestellt, wie sie sich für die Behörden darstellt: Geburtsurkunde, Diplomzeugnis in Wirtschaftsingenieurwesen, Vermittlungsvorschlag an die Kommunalverwaltung, Anlage zur Feststellung der angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung. Dazwischen Fotos: ein sauber gefalteter Anzug über einer Stuhllehne, ein Blick ins Treppenhaus, ein Teller Spaghetti.
„Ich glaube, die haben nicht gewusst, worauf sie sich einlassen“, vermutet Ensslin. „Es war für beide Seiten ein Lernprozess.“ In der Agentur murrten Mitarbeiter, als Kunststudenten den Korridor vor ihren Büros mit Holzpaletten erhöhen wollten. Warum Kunst immer so kritisch sein müsse, wollte der oberste Chef, der Leiter der Bundesagentur, auf einer einstündigen Führung durch die Regionaldirektion wissen. Und doch überlegt die Zentrale in Nürnberg, ob sie die Ausstellung noch übernimmt. Ein Hausmeister dagegen zeigte sich von der Ausstellung hellauf begeistert. Wichtig war Ensslin, den Gesprächsfaden nie abreißen zu lassen. Denn die Ausstellung war, so Ensslin, „nicht auf Skandalisierung angelegt“. Künstler und Mitarbeiter der Agentur seien von denselben Prozessen betroffen. „Auch wenn wir von außerhalb kommen, sind wir ein Teil dieses Systems.“
Dietrich Heißenbüttel